Der Junge, der mit den Waldgeistern sprach

Es lebte einst eine Familie in St. Primus am Turnersee. Der Vater hatte seine junge Frau und seine drei Kinder schon früh verlassen. Die Geschichten über die große Stadt im Osten und all den Reichtum den es dort gab, hatten ihm den Kopf vernebelt. So kam es, dass er in einer sternenklaren Nacht einen Entschluss fasste, aus dem ehelichen Bett aufstand, sich in seine Arbeitskluft warf und seine Familie für immer verließ. Am nächsten Morgen fanden seine Kinder nur noch seinen Hut und seinen Stock, die er beide im Haus vergessen hatte.

Die Kinder litten sehr unter dem Verlust ihres Vaters. Nächtelang lagen sie wach, erzählten einander Geschichten über ihn und dachten an glücklichere Tage. Die Mutter weinte viel. All die Freude, die Herzlichkeit und die Wärme waren aus ihrem Gesicht gewichen. Ein dunkler Schatten hatte sich über ihre Augen gelegt und sie trug von diesem Tag an nur noch schwarze Kleider, als wäre ihr Mann verstorben. Nun war es der älteste Sohn, selbst gerade erst einmal dreizehn alt, der all die Verantwortung, die sein Vater ihm hinterließ, übernehmen musste. Er war das neue Familienoberhaupt, musste Stärke beweisen und sich darum kümmern, dass es genug zu Essen gab.

So kam es, dass der älteste Sohn sich eine neue Arbeit suchte, die ihm genug Geld einbrachte, um die gesamte Familie ernähren zu können. Auf der anderen Seeseite, zwischen Ufer und den Karawanken am Horizont, erstreckte sich ein großer Wald. Dort, so wusste er, lag tief im Inneren des Waldes eine kleine Gemeinschaft an Waldarbeitern. Sie fällten täglich, pro Mann, drei Bäume und lieferten das Holz in die Hauptstadt im Westen. Dort wurden daraus neue Häuser gebaut, Boote und Kutschen. Die Nachfrage war eine große und so kamen die Waldarbeiter, die eine eingeschworene und vertraute Truppe waren, zu viel Geld.

Nach einem Tag Fußmarsch fand der älteste Sohn schließlich die kleine Waldarbeiter Siedlung. Sie lag gut versteckt, auf einer kleinen Lichtung, die die Männer aus dem dichten Wald geschlagen hatten. Es waren furchtbare Gestalten denen er dort begegnete. Männer so groß wie Bären, mit riesigen Händen, breiten Oberarmen und Bärten so wild wie die Männer selbst. Einige kamen gerade vom Holzschlagen zurück, andere saßen vor ihren Hütten und hielten Mahl. Sie starrten ihn mürrisch an und sagten kein Wort. Der älteste Sohn fasste sich ein Herz und ging auf sie zu. Er verlangte nach ihrem Anführer, um ihm sein Leid vorzutragen.

Der Anführer war der größte und stärkste von ihnen. Ein ungepflegter, ungehobelter Mann und an die zwei Meter groß. Er lachte den ältesten Sohn aus. Wie wolle er, mit seinen dreizehn  Jahren, mit seinen dünnen Armen und schmalen Schultern je einen Baum schlagen? Die ganze Meute lachte. Doch der älteste Sohn ließ sich nicht einschüchtern und bestand auf seinem Wunsch. So kam es, dass der Anführer ihn herausforderte und ihn seine Kraft beweisen lies. Bis zum nächsten Morgen sollte er einen Baum schlagen und den Baumstamm auf den großen Versammlungsplatz legen.

Die ganze Nacht lang mühte sich der arme Junge ab. Er vermochte kaum die große, eiserne Axt in die Luft zu  heben, geschweige denn, auch nur eine kleine Kerbe in die Rinde der hohen, starken Bäume zu schlagen. Sein Wille, seine Verzweiflung und seine Gedanken an die eigene Familie, ließen ihn jedoch nicht aufgeben. So versuchte er es weiter und weiter. Erst als ihn seine Kräfte komplett verlassen hatten, ließ er die Axt fallen. Kurz bevor er zu Boden sank, stieß er er ein leises Flehen aus und bat alle die, die ihn nun erhören möchten, um ein Wunder. Im gleichen Atemzug fiel er in einen tiefen Schlaf. Komische Träume ereilten ihn. Träume von Waldelfen, Kobolden und Zwergen, die aus dem Wald kamen und anfingen Bäume zu schlagen. Sechs an der Zahl.

Noch vor Sonnenaufgang und noch bevor die ersten Waldarbeiter aufgestanden waren, erwachte der älteste Sohn. Schnellen Schrittes lief er zurück zur Siedlung. Als er dort ankam konnte er seinen Augen nicht trauen. Auf dem großen Versammlungsplatz, der gestern Abend, als er aufbrach und alle anderen ins Bett gingen, noch leer war, lagen nun sechs große, dicke, frisch gefällte Baumstämme. Ungläubig ging er auf sie zu. Wie konnte das sein? Als er direkt vor ihnen stand, sah er am Ende der Stämme etwas liegen. Einen Hut und einen Stock. Die gleichen wie sein Vater sie einst trug.

Die ersten Waldarbeiter traten aus ihren Hütten. Auch sie konnten kaum glauben was sie sahen. Ihr Misstrauen gegenüber dem vermeintlichen Schwächling schlug rasch um. So kam es, dass sie ihn in ihre Mitte aufnahmen. Von diesem Moment an, war er ein Teil ihrer Gemeinschaft. Er verbrachte viel Zeit im Wald, arbeitete viel. Kaum ein Tag verging, an dem er weniger als sechs Bäume schlug. Er verdiente fortan genug Geld, um seine Geschwister und seine Mutter ernähren zu können. Einmal in der Woche besuchte er sie und brachte ihnen einen großen Sack mit Münzen.

Immer wenn er den Wald verließ und ins Dorf zurückkehrte, sahen ihn die anderen Menschen an und tuschelten. Die Geschichte von dem Jungen mit den schwachen Armen und den schmalen Schultern, der in nur einer Nacht sechs Baumstämme schlug, hatte sie erreicht. Nicht nur die Geschichte wird bis heute erzählt. Auch die Lichtung, tief im Inneren des Waldes, zwischen Turnersee und Karawanken, an dem sich das Wunder ereignete, gibt es bis zu diesem Tage. Die Lichtung von dem Jungen, der mit den Waldgeistern sprach.

Der Junge, der mit den Waldgeistern sprach
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Von in Klopeiner See